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DAB 09/2021

Werte der Farbe

Farbe stimuliert unsere Sinne, sie gibt Orientierung, trägt zum sozialen Miteinander bei, schafft Identität und vieles mehr. Warum kommt Farbe in der modernen Architektur dann kaum vor?

Obwohl die deutsche Sprache ansonsten über einen schier unerschöpflichen Wortschatz verfügt, sind Englischsprachige beim Wort „Farbe“ klar im Vorteil. Sie haben zwei Vokabeln dafür: Paint und Colour. Paint: Wir können Farbe als Material fühlen, in Eimern oder Dosen kaufen. Colour: Wir können Farbe als Erscheinung empfinden. Beides hat große Auswirkungen. Doch während wir dem „Material Farbe“ abverlangen, seinen Zweck bestmöglich zu erfüllen, fällt es allen am Bau Beteiligten ungleich schwerer, der „Empfindung Farbe“ ihre Funktion zuzubilligen.

Missverständnis Weiß

Und so greifen wir aus Unwissenheit oder aus Angst, etwas falsch zu machen, zu Weiß. Dabei handelt es sich hier um ein großes Missverständnis. Zwar gilt Weiß in unserem Kulturkreis als rein, doch an Fassaden und in Räumen wirkt Weiß bei unseren Lichtverhältnissen meist grau. Weiß gilt als klassisch und der Antike entlehnt, doch schon Mitte des 18. Jahrhunderts belegten Funde, wie farbenfroh die Antike war. Auch das viel zitierte Bauhaus spielte virtuos mit Farbe und nutzte Farbe in all ihren Facetten. Weiß ist auch nicht neutral, sondern, ganz im Gegenteil: Weiß lenkt den Blick und lässt Farbiges noch bunter aussehen. Weiß macht auch nicht größer, denn Weiß vereinzelt. Und „rein“ bleibt Weiß nicht lange. Das „reine Weiß“ ist ohnehin eine recht neue technische Errungenschaft. Weiß war früher kein hartes industrielles Weiß, sondern wurde aus den Kalk- und Kreidevorkommen abgebaut. Der Abbauort bestimmte seine Farbe. Dennoch hält sich hartnäckig das Vorurteil, Weiß könne zumindest keine falsche Entscheidung sein.

Macht der Farbe

Im Alltag nehmen wir es als selbstverständlich hin, dass die Macht der Farbe genutzt wird. Im Supermarkt findet sich kaum ein Light-Produkt, auf dem nicht die Farbe Hellblau vorkäme, kein vermeintliches Bioprodukt ohne die Farbe Grün. Und wie schwierig macht es uns Farbe, den richtigen Button zu finden, wenn wir Cookies auf einer Website einmal nicht zulassen wollen? Hier führt uns Farbe in die Irre. Empirische Studien belegen seit Jahrzehnten die Wirkung des Phänomens Farbe. Die Industrie macht sich das schon lange zunutze.

Und in der Architektur oder Innenarchitektur? Zuweilen versuchen wir mit Vollfarben oder Buntem, dem reizarmen Weiß oder Grau etwas entgegenzusetzen. Und enden nicht selten in Reizüberflutung. Und das sonnige Gelb, das gar nicht so sonnig wirkt, bringt auch nicht die ersehnte Wirkung. In diesem Spannungsfeld gilt es einmal mehr nachzufragen, wie denn umzugehen ist mit der Macht der Farbe in der Architektur. Gibt es vielleicht verbindliche Richtlinien, nach denen Farben gewählt werden können? Oder ist Farbe einfach Geschmacksache?

Funktion der Farbe

Farbe hat eine rationale Eigenschaft. Sie kann dazu beitragen, dass unser Umfeld geordneter aussieht, dass wir uns zurechtfinden, etwas wiedererkennen, sie kann einen Raum weiter erscheinen lassen oder höher, ein Gebäude größer oder kleiner. Ein Raum kann aufgrund seiner Farbigkeit um bis zu drei Grad wärmer oder kälter erscheinen. Farbe kann Räume verbinden oder trennen, einen Raum in einem Raum schaffen, etwas in den Vordergrund rücken, oder etwas verbergen, etwas wertvoll erscheinen lassen oder billig. Und Farbe hat eine emotionale Energie, die unser Gefühl bestimmt, wie Lust, Freude, Angst, Überraschung, Sicherheit, Entspannung, Traurigkeit, Zugehörigkeit, Konzentration oder Neugierde. Farben triggern unsere Sinne und wirken auf unseren gesamten Organismus. Unsere Sinne sind eng miteinander verwoben und wirken nicht unabhängig voneinander. Erst alle Sinne gemeinsam ergeben einen Sinneseindruck in unserem Gehirn. Ein rotes Akustikpanel wird subjektiv weniger wirksam sein als ein grünes oder pastellfarbenes, ungeachtet der gemessenen Dezibel. Und wie ist unser Sinneseindruck beim Blick auf die Wand vor uns? In unserem Büro, Zuhause, im Klassenraum, Krankenhauszimmer, Homeoffice oder Parkhaus? Warum prellen wir uns um den Mehrwert Farbe? Und was macht den Wert und die Sinnhaftigkeit der Farbe aus?

 Wert der Farbe als Material

Was macht eine Farbe wertvoll? Gerade hier ist es von besonderer Bedeutung zwischen Paint und Colour zu differenzieren. Farbe als Material hat in den letzten zehn Jahren an Bedeutung gewonnen. In der Auseinandersetzung mit Farbe scheint es nun wichtig, wie satt die Farbe ist, wie tief sie wirkt, wie matt sie ist, wie kostbar durch Diamanten gleichen Pigmenten. Das alles macht die Farbe schöner, aber es macht sie noch nicht besser. Darüber hinaus haben Pigmente ihren Preis. Hat aber nicht jeder gute Farbigkeit verdient? Und in welchem Maße ist der Architekt bei der Wahl des Farbmaterials der Umwelt verpflichtet? Was hinterlässt die Farbe? Und: Worauf wird die Farbe aufgetragen? Eine atmungsaktive Farbe auf einen Untergrund aufzutragen, der gar nicht atmen kann, ist zu spät angesetzt. Ebenso gilt es unsere Ansprüche an die Farbe zu überprüfen: Muss jede Farbe alles können? Und ist es immer sinnvoll? Ein Bad „wasserfest“ zu streichen begünstigt Schimmelbildung. Eine frühzeitige Materialwahl mit diffusionsoffenen Baustoffen wirkt Schimmel ganz natürlich entgegen.

Wert der Farbe als Sinnesreiz

Wertschöpfend ist der Sinnesreiz einer Farbgestaltung, wenn er unser Leben verbessert. Wenn Farbe den Nutzer und die Nutzung unterstützt und in den Fokus nimmt. Wenn ihr funktionaler Charakter unser Leben ganz konkret erleichtert und unsere Sinne in positiver Weise angeregt werden. Wenn die Farbe der Raumsituation angepasst ist, dem Licht und dem Material. Wenn sie orientierungsfreundlich ist und der Aufenthaltsdauer entspricht. Werte schafft die Farbwahl, wenn sie nachhaltig ist dadurch, dass sie der Zeit standhält. Oder wenn aufgrund der guten Gestaltung des Treppenhauses öfter mal die Treppe genutzt wird als der Aufzug. Nutzen schafft Farbe, indem sie Vandalismus entgegenwirkt, zur Identifikation und zum sozialen Miteinander beiträgt. Es geht also gar nicht um Geschmack, sondern um Funktion.

Colour follows function

In der ersten Phase wird nicht in Farben oder Farbtönen gedacht, sondern in Anforderungen und Bedürfnissen. Worin liegt die Sehnsucht? Im Sehnen nach Identifikation vielleicht oder im Wunsch nach Repräsentation, im Bedürfnis nach Ruhe oder im Verlangen nach Orientierung? Wie sind die räumlichen Voraussetzungen, wo gibt es etwaige Mängel, was gilt es zu betonen? Wie sind die kulturellen und lokalen Gegebenheiten? Welche Anforderungen hinsichtlich Architektur, Material, Licht, Umgebung gibt es? Wie sind die allgemeinen und individuellen Bedürfnisse, wie zum Beispiel das Bedürfnis nach Kommunikation, Geselligkeit, Rückzug, Entspannung oder Konzentration? Wie soll das Temperaturempfinden sein? Wie die Raumempfindung: dynamisch, aktivierend, oder statisch beruhigend? Wie ist die Raumorientierung und wie soll die Bewegungslenkung sein? Hier geht es nur darum zu sammeln, zuzuhören und zu fragen.

Farben haben eine Wirkung, also setzen sie Ursachen

Erst nach einem guten Briefing, gründlicher Vorarbeit und Recherche kann ein Ziel definiert und ein Charakter herausgearbeitet werden. Farbgestaltung kann eine Gedankenhilfe sein, die entweder das Gelernte bestätigt, eine Lücke schließt oder die Fantasie anregt. Maßgeblich für die Funktion der Farbe in der Gestaltung sind zum einen die Helligkeitskontraste. Im visuell barrierefreien Raum ist das Kontrastminimum für gute Erkennbarkeit seit 2009 sogar in einer DIN-Norm festgelegt und wird mit der Kontrastformel nach Michelson errechnet. Zum anderen ist es das Wesen der Farbe, das unsere Sinne atmosphärisch anspricht. Am Beispiel des Akustikpanels hat ein Rot ein lauteres Wesen als ein Grün. Farbklänge sind wie Musik. Auffällige und grelle Farben sind wie laute Musik. Laute Musik kann zwar Spaß machen, aber meist nur kurz. Eine gute Farbgestaltung verfehlt ihre Wirkung auch dann nicht, wenn sie erst auf den zweiten Blick wahrgenommen wird. Farbwirkungen sind sehr komplex und immer vom individuellen Kontext abhängig. Es gibt keine Patentrezepte oder immer gleiche Handlungsanweisungen. Es gibt auch keine „richtigen“ oder „falschen“ Farben. Es ist ja auch nie eine einzelne Farbe, die wirkt, sondern ein Farbklang. Bedeutung gewinnt eine einzelne Farbe erst in Verbindung mit dem Ganzen. Farbe ist ein Sinnesreiz. Wir denken auch nicht darüber nach, wie uns Farbe gefällt, sondern wir empfinden sie. Und zwar vor allem unbewusst. Um zu überprüfe, ob unsere Annahmen über Farbe, stimmen, gilt es deshalb, auf unsere Empfindung zu achten und unser Auge zu schulen.

Und mit jeder Farbentscheidung, die wir treffen, setzen wir eine Ursache für eine Sinnesempfindung.

Nathalie Pagels
Farbige Stereotypen

Wer mit farbigen Wänden arbeitet, geht meist davon aus, dass weiße Decken einen Raum höher machen und dass diese Wirkung verstärkt wird, wenn wir die Decke einige Zentimeter „runterziehen“. Das Gegenteil ist der Fall: denn unser Auge sucht eine Horizontale im Raum. Dort wo die Trennung ist, hört die Wand in unserer Wahrnehmung auf. Farblich ist die Decke die fünfte Wand und muss auch so behandelt werden. Ein weiterer Stereotyp ist eine einzelne Wand farbig zu streichen, um nicht zu viel zu wagen und dennoch mutig zu sein. Doch eine einzeln gestrichene Wand wirkt meist bunter als ein ganzfarbig gestrichener Raum, weil die Farbe im größtmöglichen Kontrast zur weißen Wand steht. Gelb macht nicht immer sonnig, denn ein nach Norden ausgerichteter Raum bleibt ein nach Norden ausgerichteter Raum. Und das Gelb, das den Raum strahlend erscheinen lassen sollte wirkt hier fahl und grünlich. Es sind die ruhigen kühlen Töne, die diesen Raum am besten zur Geltung bringen. Gelernt haben wir auch, dass dunkle Farben einen Raum kleiner machen. Das ist falsch. Wie groß oder klein ein Raum wirkt, hat vielmehr mit seinen Farbübergängen und Kontrasten zu tun.

Farbwerte in der Ausbildung

Durch die fortschreitende Spezialisierung in allen Bereichen am Bau ging der Umgang mit der Farbe weitestgehend verloren, weil keiner mehr dafür „zuständig“ war. Nach dem Vortrag eines namhaften Architekten wurde er in der abschließenden Fragerunde nach dem Grund gefragt, außer Materialfarbigkeit keine Farbe verwendet zu haben? Seine Antwort war: “Ich habe es nicht gelernt“. Das Wissen um die Farbphänomene wird meist nur am Rande behandelt. Innenarchitekt*innen haben oft einen guten Zugang zur Farbe. Doch leider wird häufig schon in der Ausbildung falsches Wissen weitergegeben.

Und so ist zu verstehen, dass dem „Missverständnis Weiß“ das gerade allgegenwärtige „Missverständnis Grau“ folgt. Ebenso wie Weiß wird Grau hier gern als „Stattdessenfarbe“ genutzt. Zwar gilt Grau als „pur“ und elegant. Auch bringt es alle anderen Farben zum Strahlen und ist nicht immer eine falsche Entscheidung. Doch ein Grau wird nie aus sich heraus leuchten, lebendig, erfrischend, einladend, vital oder freundlich daherkommen. Sondern eher ermüdend auf unseren Organismus und im schlimmsten Falle bedrohlich statt elegant wirken. Kinder und Jugendliche lehnen Grau und Weiß deshalb meist ab.

Noch immer ist Farbe meist das letzte Glied in der Kette der Entscheidungen am Bau. Aber Farben haben immer eine Wirkung. Als Material und Sinnesreiz. Und mit jeder Farbentscheidung, die wir treffen, oder, wie wir glauben, durch Weiß nicht treffen, setzen wir eine Ursache für eine Sinnesempfindung. Undifferenzierte (Farb-)Gestaltung stumpft uns ab und macht uns ignorant, wohingegen unsere Fähigkeit zu differenzieren durch gelungene Farbgestaltung kultiviert wird.

Damit Farbe der Architektur bestmöglich dienen kann, ist es nötig, dass alle Beteiligten Farbe von Anfang an mitdenken. Deshalb ist es an der Zeit, das Fachgebiet und Kulturgut „Farbe“ in Studium und Ausbildung zu etablieren, zu vertiefen, zu aktualisieren und immer wieder auf seine Inhalte zu überprüfen. Es gilt interdisziplinär zu arbeiten, damit sich Blick und Perspektive weiten.

 

Nathalie Pagels ist Diplom Farbberaterin ICA, arbeitet als freischaffende Farbkonzepterin in Düsseldorf, lehrt an mehreren Hochschulen und Universitäten und forscht zur „Ethik der Farbgestaltung“.

Redaktion: Dipl.-Ing. Marion Goldmann, Dipl.-Ing Heiko Haberle I Autorin: Nathalie Pagels