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Interior Fashion 03/2018

Jeder hat gute Farbigkeit verdient

Nathalie Pagels ist diplomierte Farbberaterin. Sie ist über viele Umwege zu ihrem heutigen Beruf gekommen, füllt diesen aber mit Leidenschaft und viel Einfühlungsvermögen aus – sowohl für ihre Kunden als auch für die Farbe selbst. Bianca Schmidt sprach mit Nathalie Pagels über Farbe, ihre Wirkung und ethische Farbgestaltung.

IF: Ist Farbe ein unterschätztes Gestaltungsmittel in der Innenarchitektur?

Nathalie Pagels: Ich würde es gerne anders ausdrücken: Farbe kann in der Gestaltung nicht überschätzt werden. Es gibt viele Innenarchitekten, die Farbe zu schätzen wissen und ganz selbstverständlich sowie sehr sicher damit umgehen und sie von Beginn an in ihre Überlegungen einbeziehen. Wenn man an dieser Stelle etwas kritisieren möchte, dann ist es die Tatsache, dass der Einsatz von Farbe nicht immer kundenorientiert ist, sondern oftmals das Umsetzen der eigenen Handschrift im Vordergrund steht. Hier würde ich mir wünschen, dass öfter das eigene Ego hintenangestellt und kundenorientierter beraten wird. In meinem Leitfächer der Farbgestaltung habe ich am Ende die zehn Gebote für den Farbgestalter definiert.
Das erste lautet: „Werten Sie nicht“ und das zweite: „Legen Sie nicht Ihren eigenen Geschmack zugrunde“. Bei Investoren, Wohnbaugesellschaften und auch Endkunden ist es oftmals so, dass sich diese selbst um das Erlebnis Farbe bringen. Bei Architekten habe ich festgestellt, dass für diese die Farbe erst da ist, wenn es um Materialfarbigkeit geht. Diese ist zwar auch schön, reicht zum einen aber nicht aus und zum anderen strahlt sie aufgrund der heutigen Architektur, die zu einem hohen Anteil aus Glas und Stahl besteht, keine Wärme aus. Hier wünsche ich mir einfach noch mehr Schulterschluss und Offenheit in der Zusammenarbeit.

IF: Apropos Leitfächer zur Farbgestaltung. Diesen haben Sie 2016 herausgegeben. Welchen Inhalt hat er und an wen richtet er sich?

Pagels: Im Grunde stellt der Leitfächer eine kompakte Zusammenfassung meines Wissens aus den vergangenen 20 Berufsjahren dar, das natürlich auf dem Wissen fußt, das andere Experten vor mir weitergegeben haben. Wichtig waren mir vor allem zwei Dinge: Der Fächer sollte hierarchielos sein, das heißt, der Nutzer soll ganz unabhängig von seiner Vorbildung einen Einstieg in das Thema finden. Und: Er sollte bezahlbar sein. Hier hatte ich im Musterschmidt Verlag von Beginn an einen tollen Unterstützer, der dies möglich gemacht hat.

IF: Ich möchte nochmals auf den Stellenwert der Farbe zurückkommen. Konnten Sie hier in den vergangenen Jahrzehnten eine Veränderung feststellen?

Pagels: Ja, unbedingt. Unglücklicherweise sind wir in eine Weißphase geboren, und die Farbe hatte sehr lange keine Lobby. Diese Phase hat sich besonders in Deutschland sehr hartnäckig gehalten.
In angelsächsischen Ländern war das anders. Aber ja, es hat sich etwas getan. Zum einen wahrscheinlich wegen Kämpfern wie mir oder wegen Institutionen wie dem Haus der Farbe in Zürich oder dem Deutschen Farbenzentrum. Es haben sich Menschen und Gruppen zusammengeschlossen und eine Lobby geschaffen. Zum anderen wird Farbe heute als Material gesehen, das in Dosen zu kaufen ist und etwas mit Manufaktur zu tun hat. Das begrüße ich zwar einerseits, denn es hat Bewusstsein geschaffen. Andererseits sehe ich das aber auch etwas kritisch, weil es sehr um Prestige, um einen neuen Markt geht, von dem jeder etwas abhaben will. Am Ende geht es dann oft nicht mehr um die humanistische Farbgestaltung. Gute Farbigkeit hat aber jeder und in jeder Situation verdient.

IF: Es gibt günstige und sehr teure Farben, die sich in der Qualität natürlich auch deutlich voneinander unterscheiden. Wirkt sich diese Qualität auch auf die Wirkung im Raum aus?

Pagels: Selbstverständlich wirkt sich Qualität aus. Die Qualität der Farbe definiert sich über die enthaltenen Pigmente. Pigmente sind wie Brillanten und werden auch so gehandelt. Natürlich macht es etwas mit einem Raum, wenn in einer Farbe sehr viele Pigmente und nicht nur Füll-stoffe enthalten sind. Hier entsteht eine Metamerie, das heißt, eine Farbe sieht morgens anders aus als am Abend. Bei günstigeren Farben mit weniger Pigmenten fällt das oftmals etwas ab und wirkt nicht so lebendig. Das darf allerdings nicht dazu verleiten, die Verhältnismäßigkeit zu verlieren. Zudem sollte man auch nachfragen, worauf die Farbe überhaupt gestrichen wird. Wenn eine atmungsaktive Farbe auf einen Untergrund gestrichen wird, der aus unterschiedlichen Gründen gar nicht mehr atmen kann, dann frage ich nach dem Sinn.

Farbe hat aber auch eine rationale, funktionale Eigenschaft. Sie ist gut, wenn ich in der Tiefgarage mein Auto wiederfinde. Schlecht ist sie, wenn ich es nicht tue.

Nathalie Pagels

IF: Wie genau wirkt eigentlich Farbe? Welchen Einfluss nimmt sie auf den Menschen und den Raum?

Pagels: Es gibt viele Aussagen über die Wirkung von Farben. Da steckt immer ein Quäntchen Wahrheit drin, aber insgesamt ist die Wirkungsweise der Farbe trotz aller Wissenschaft und empirischer Studien nicht so leicht zu fassen und zu beweisen. Dass Farbe wirkt, können wir an uns selbst feststellen, wenn wir nur auf unsere Empfindungen achten. Und Farbe ist eine Empfindung. Sie wirkt auf unseren gesamten Organismus, auf unsere Art, die Welt zu sehen, wie wir gesehen werden, wie wir etwas aufnehmen, auf unsere Sehnsüchte. Das ist die emotionale Ebene der Farbe, die sehr individuell ist. Farbe hat aber auch eine rationale, funktionale Eigenschaft. Sie ist gut, wenn ich in der Tiefgarage mein Auto wiederfinde. Schlecht ist sie, wenn ich es nicht tue.

IF: Kommen wir einmal zum handwerklichen Aspekt: Wie gehen Sie bei der Erarbeitung eines Farbkonzeptes vor?

Pagels: Ich gehe hier immer nach einem bestimmten Schema vor – egal, ob es sich um ein Reihenhaus, ein Single-Appartement oder ein großes, öffentliches Gebäude handelt. Ich gebe Ihnen hier einmal ein Beispiel: Ich hatte das Glück, dass ich für die öffentlichen Flächen des „City Gate Bremen“, eines Gebäudekomplexes mit Ärztehaus, Büroetagen, Gastronomie, Einzelhandel und zwei Hotels, das Farbkonzept machen durfte. Es muss vom Sieben- bis zum 70-Jährigen allen gefallen, es soll hochwertig aussehen, aber auch nicht zu hochwertig, es muss bezahlbar sein und ganz wichtig, die Menschen vor Ort müssen sich in dem Projekt wiederfinden, sich gesehen fühlen. Zuerst verschaffe ich mir ein Bild davon, wie die Stadt und ihre Menschen ticken. Dazu gehe ich in die Bücherei, fahre mit dem Fahrrad durch die Stadt und spreche mit Einheimischen. Dann fühle ich mich ein und komme zu dem Ergebnis, dass für Bremen Technik, Schifffahrt, Handel und Kaffee wichtige Themen sind. Hierzu suche ich schließlich die passenden Farbwelten und bringe diese in Einklang miteinander. In dem konkreten Fall sind fünf Kernfarben und Farbwelten entstanden. Dann allerdings schaue ich mir an, was der Architekt macht und was seine Intentionen sind. Hier gilt es immer, sein eigenes Ego zurückzunehmen. Es soll ja keine Nathalie-Pagels-Gestaltung entstehen, sondern eine für die Stadt Bremen und seine Einwohner. Es geht also um das große Ganze.
Bei einem Reihenhaus ist es vom Prinzip her dasselbe. Ich höre dem Bauherrn zu, erfrage, was er möchte und warum er es möchte. Ich schaue mir auch ganz praktische Dinge an, denn auch die funktionalen Komponenten sind zu berücksichtigen. Zum Beispiel sehe ich, dass der Familienhund zur Türe hereinkommt und immer an einer bestimmten Wand „entlangschrubbelt“. An dieser Stelle wähle ich also lieber keinen hellen Farbton aus und entscheide mich vielleicht sogar für einen Sockel. Kurz gesagt, der Nutzer und die Nutzung sind entscheidend, wie lauten die Allgemeinbedürfnisse und wie die individuellen. Es kommt also darauf an, zuzuhören und Empathie zu entwickeln. Und das verknüpfe ich schließlich mit meinem Fachwissen.

IF: Gibt es eine richtige und eine falsche Farbe?

Pagels: Nein, die gibt es nicht. Die Farben sind erst einmal nur Farben und alle gleich viel wert. Eine Farbe tritt auch nie alleine auf. Es ist immer ein Farbklang. Und wie das auch bei den Menschen oder in der Physik ist: Bedeutung bekommt die einzelne Farbe immer erst in Verbindung mit dem Ganzen. Was die richtige Farbe ist, hängt von vielen Faktoren ab. Und wäre das City Gate in Düsseldorf, wäre ich sicherlich zu anderen Farben gelangt als in Bremen.

Wir glauben doch alle, dass man mit Weiß nichts falsch machen kann. Das ist aber nicht richtig. Man versucht, etwas auszuweichen, um keinen Fehler zu machen und kann damit verheerende Dinge anrichten.

IF: Wann ist der richtige Zeitpunkt, Sie als Farbgestalterin zu einem Projekt dazuzuholen?

Pagels: In dem Moment, in dem die Idee entsteht. Das hat zum einen eine ganz praktische Komponente, denn die Materialien sind nicht von heute auf morgen erhältlich. Zum anderen lässt sich bei einer frühzeitigen Einbindung ein Farbkonzept gestalten, das dann nach und nach umgesetzt werden kann, aber in seiner Gesamtheit steht.
Und es gibt noch einen Grund, der für eine sehr frühzeitige Einbindung spricht. Die Menschen fragen so selten nach dem Warum, nach der Motivation, etwas zu tun. Streiche ich zum Beispiel eine Wand rot, weil es alle machen, weil ich es in der Zeitung gesehen habe oder weil ich es so gelernt habe? Wir glauben doch alle, dass man mit Weiß nichts falsch machen kann. Das ist aber nicht richtig. Man versucht, etwas auszuweichen, um keinen Fehler zu machen und kann damit verheerende Dinge anrichten.

IF: Sie haben den Vortrag „Ethik der Farbgestaltung“ verfasst und 2014 im Rahmen der internationalen Konferenz „Farbe als Experiment“ an der Bergischen Universität Wuppertal gehalten. Was war Ihre Intention und was verstehen Sie unter Ethik der Farbgestaltung?

Pagels: Der eigentliche Grund für den Vortrag war, dass ich mich immer wieder über Kollegen geärgert habe, die behaupten, ein Farbkonzept kann innerhalb von zwei Stunden erstellt werden. Ich kann in zwei Stunden unmöglich wissen, welche Farbigkeit für den Kunden die richtige ist. In der Zeit kann ich sicherlich etwas Schickes machen, aber mit wenig Substanz.
Für den Vortrag wurde ich übrigens zuerst belächelt. Heute ist er als Artikel auch über die Baufachbibliothek des Fraunhofer-Informationszentrums Raum und Bau zu beziehen. Ethik ist eine Philosophie, darüber nachzudenken, was ist richtiges und was ist falsches Handeln. Daraus entspringt im besten Falle eine Moral. Ich habe mir damals gesagt, entweder gibt es eine Ethik, dann ist sie auch auf alles anzuwenden, oder es gibt keine. Und so wende ich die Ethik auf die Farbgestaltung an.
Darunter verstehe ich, dass man menschlich damit umgeht, Farbe unter funktionalen und verantwortungsvollen Bedingungen und sehr sorgfältig anwendet, sich hineinfühlt, aber auch, das kleine Ich zu überwinden, andere mit einzubeziehen, um Rat zu fragen, zusammenzuarbeiten und letztendlich das große Ganze im Blick zu haben. Im Grunde ist es ganz einfach. Es geht um anständiges Handeln. Und wenn man sich 20 Jahre mit Farbe beschäftigt hat, weiß man ganz sicher um die große Wirkung. Und dann geht man von ganz alleine respektvoll damit um.

IF: Frau Pagels, herzlichen Dank für das außergewöhnliche Gespräch!

Interview & Redaktion: Bianca Schmidt